Das Westerwaldwunder
Das Reisen mit dem Campervan hat Caro und Nils Fröhlich gelehrt, wie wenig es braucht, um frei und glücklich zu sein. Mit den Füßen auf heimischem Boden angekommen, haben sie ihre Erfahrungen in Architektur übersetzt. Entstanden ist die Kleine Bleibe – Ferienhäuser ohne Ballast, die für frischen Wind im Westerwald sorgen.

Manchmal braucht es einen Impuls, einen Tropfen Wasser, der im positiven Sinn nicht das Fass zum Überlaufen bringt, sondern Dinge in Bewegung setzt. In diesem Fall sind es zwei schwarze Holzhäuser, die versteckt am Hang stehen, sich auf regionale Traditionen berufen und dennoch auf den ersten Blick fremd wirken. Ihr Bau hat für Aufregung gesorgt. Heute ist die Kleine Bleibe ein Leuchtturmprojekt im südlichen Westerwald.

Um so ein Projekt zu starten, braucht es vor allem Mut, ein klares Ziel und auch ein bisschen Zufall. Die beiden waschechten Westerwälder Caro und Nils Fröhlich hatten zunächst nicht ihre Heimat im Blick. Das Leben hatte sie in den Süden geführt und ihnen viele interessante Orte in Europa gezeigt. Als der Wunsch nach einem eigenen Ferienhaus aufkam, stellten sie sich immer wieder eine Frage: „Wie würden wir das machen?“ Aus Gedankenspielen wurde eine Pro-Contra-Liste. Fortan suchten sie ein Grundstück mit Atmosphäre, einen Ort inmitten der Natur, weit weg von der Hektik des Alltags. Dass ihre innersten Wünsche sie wieder so dicht an ihre Wurzeln führen sollten, hat sie selbst überrascht.
Heimat.
Zwanzig Kilometer von ihrem Heimatort entfernt sind sie fündig geworden. Das kleine Dorf Reckenthal mit seinen rund 100 Einwohnern ist ein Vorort der Schusterstadt Montabaur und liegt im Naturpark Nassau. Die Fachwerkhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert in der hügeligen Landschaft und stehen größtenteils unter Denkmalschutz. Mit „Hui Wälla?“ begrüßen sich die Menschen und wer mit „Allemol!“ antwortet, gibt sich als echter Westerwälder zu erkennen.
Kurvenreich schlängelt sich der Gelbach an Reckenthal vorbei. Über Jahrmillionen hat sich das Wasser durch den rheinischen Schiefer geschnitten und die für die Region typischen Felsformationen und Unterlauftäler entstehen lassen. Ein Paradies für Wanderer und Naturfreunde. Ein beliebtes Ziel ist der Skulpturenweg, der direkt an der Kleinen Bleibe vorbeiführt. Seit 2009 säumen 42 Holzskulpturen den fast zehn Kilometer langen Rundweg. Er führt hinaus über die weitläufige Hügellandschaft mit blühenden Wiesen und Obstbäumen und hinab zum Gelbach, der in Richtung Lahn dahinplätschert. Von den Kuppen aus sieht man das gelb leuchtende Barockschloss von Montabaur. Und wer frühmorgens hinaufsteigt und die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Nebelfeldern einfängt, fühlt sich fast schon wie in der Toskana.

Touristisch steht die Region aber längst nicht so gut da wie die berühmte Schwester. Die kleinen Hotels und Gaststätten mit urigen Namen und verschnörkelten Schaukästen am Eingang erzählen von einer vergangenen Zeit. Der Westerwald mit seinen unendlichen Wäldern, Wiesen und Flüssen verschwand für viele Jahre aus dem Fokus der Reisenden. Zu bieder, zu rückständig, zu altmodisch. Der kalte Wind, der in dem bekannten Volkslied „Oh du schöner Westerwald“ über die Höhen pfeift, half auch nicht gerade beim Standortmarketing. Seit einigen Jahren aber tut sich was. Die Menschen haben – auch dank Corona – die Schönheit ihrer näheren Umgebung wiederentdeckt. Kurze Anreise, maximale Erholung. Jetzt sind es Mikroabenteuer und Detox-Auszeiten, die locken; das Verschlafene gilt plötzlich als authentisch. Für diese neuen Gäste braucht es neue Angebote. Und die Kleine Bleibe trifft genau den Zeitgeist.

Bleiben.
Mit ihren zwei Holzhäusern haben Caro und Nils Fröhlich ein Ausrufezeichen gesetzt. Der Schreiner und Architekt und die Hotel- und Marketingexpertin haben ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse formuliert und daraus das Konzept abgeleitet. Was als zwei Ferienhäuser für architektonisch interessierte Gäste geplant war, entfachte einen kleinen Boom in der Region. Die Menschen vor Ort hat dies zunächst überfordert, die Tourismusverantwortlichen dagegen erkannten das Potenzial sofort.
Moderne Architektur polarisiert, weiß Nils Fröhlich. Dabei knüpfen die Holzhäuser an die Bautradition der Region an. Denn auch im Westerwald wurden schon immer Holzhäuser gebaut, die auf einem Steinsockel stehen und ein überstehendes Dach haben. Genau wie bei der Kleinen Bleibe. Nur dass jetzt der Sockel aus Beton und nicht aus Natursteinen besteht und das Haus massiv aus Holz gebaut wurde, so wie vor der Zeit der Fachwerkhäuser, als noch genügend Holz zur Verfügung stand und die massive Bauweise der Standard war. Die Kleine Bleibe ist für Nils Fröhlich deshalb die konsequente Weiterentwicklung der historischen Baukultur.

Die Westerwälder Basaltköppe – wie die Einheimischen sich liebevoll selbst nennen – sahen dies aber zunächst anders. Sie machten ihrem Namen alle Ehre und legten den jungen Bauherren Steine in den Weg. Zu fremd wirkten die reduzierten Holzhäuser im Kontrast zum historischen Ortskern. Es gab Unruhe während der Bauzeit und viele haben darüber gesprochen. Nur der Gastwirt der Brunnenstube gegenüber war von Anfang an begeistert. Auf seiner Terrasse trafen sich Einheimische und Wanderer, um aus der Logenplatzperspektive die Architektur der Häuser zu diskutieren und zu kommentieren.


Waldbaden.
Auf den ersten Blick fallen die Häuser aus dem Rahmen, obwohl sie ganz leise daherkommen. Ein bisschen wirkt es so, als würden sie sich im Wald verstecken und gleichzeitig neugierig in die Landschaft schauen. Schwarz lasiertes Holz, ein Satteldach, so weit nichts Ungewöhnliches. Beim Blick auf die Fassade fällt aber auf: Hier ist nichts gewöhnlich. Große, quadratische Fensteröffnungen, wie zufällig aus der Fassade herausgeschnitten, wirken wie Schaufenster. Nähert man sich den Häusern von der Straße aus, fühlt man sich an den Scheinriesen bei Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer erinnert. Aus der Ferne thronen die Häuser erhaben über den Köpfen. Steigt man die steile Treppe hoch und kommt ihnen näher, so schrumpfen sie förmlich zusammen, bis sie schlussendlich zwischen den Bäumen fast unsichtbar werden und ihre Gäste umarmen.



Der schwarz-weiße Kontrast des historischen Fachwerks ist hier das Spiel zwischen innen und außen, das erst beim Betreten der hellen Innenräume deutlich wird. Decken, Wände und die selbstentworfenen Einbaumöbel bestehen alle aus heller Fichte. Der Duft von frischem Holz begleitet die Besucher durch die Ebene und selbst im Haus hat man das Gefühl, förmlich im Wald zu baden. Das „Gipfelglück“ erstreckt sich auf drei Etagen und die nur 42qm sind so angeordnet, dass selbst noch genügend Platz für eine frei stehende Badewanne bleibt. Im „Waldwunder“ finden auf zwei Etagen bis zu vier Personen Platz. Und dazwischen in der Hitzekiste liegt die Sauna, die von beiden Häusern genutzt werden kann.

Offline.
Auf alles, was ablenkt, wird in der Kleinen Bleibe bewusst verzichtet. Keine Bilder an den Wänden, kein Fernseher. Automatisch geht so der Blick nach außen durch die quadratischen Fensteröffnungen. Die Natur ist der Hauptdarsteller. Beim Gang durch die Häuser eröffnen sich überraschende Ausblicke. Mal steht man direkt im Wald, mal sieht man in der Ferne die schroffen Gesteinsformationen über dem Gelbachtal. Unterdessen tanzen die Sonnenstrahlen durch die Blätter und tauchen die Räume in immer neues Licht.

Minimalismus ist das Leitmotiv, materielle Reduktion, Fokussierung auf das Wesentliche. „Offline“ steht vorne auf dem Gästebuch, das Caro Fröhlich liebevoll gestaltet hat und das jeder Gast inklusive persönlicher Widmung zur Begrüßung auf den Tisch gelegt bekommt. Ein kleines Gesamtkunstwerk, in dem die Philosophie des Hauses erklärt wird. Wo andernorts lange Anleitungen für komplizierte Geräte stehen, ist es hier eher die Aufforderung, alles, was stört und belastet, abzuschalten. Offline sein fällt in der Kleinen Bleibe leicht. Es gibt keine komplizierten und piepsenden Geräte. Und das WLAN kann bei Bedarf ausgeschaltet werden.
Mit ihrem Konzept fordern die Gastgeber ihre Gäste ein wenig heraus. Wer Kaffee trinken möchte, mahlt sich diesen zunächst mit der Handmühle. Und wer jede Tasse per Hand abwäscht – eine Spülmaschine gibt es genauso wenig wie einen Wasserkocher – überlegt sich, ob er die Tasse nicht einfach weiternutzt. „Nudging“ (Engl.: schubsen, stupsen) nennt sich diese Methode, Gewohnheiten und Routinen infrage zu stellen, und das auf so angenehme Art und Weise, dass einem als Gast gar nicht in den Sinn kommt, dass man etwas vermisst. So definiert die Kleine Bleibe ganz unspektakulär Begriffe wie Luxus und Komfort neu.
Das liegt auch daran, dass die Gastgeber die Gegenstände für die Wohnungen sehr bewusst ausgewählt haben. Selbstverständliche Alltagsdinge bekommen dadurch eine besondere Aufmerksamkeit. Zum Beispiel das Geschirr: Es besteht aus Westerwälder Ton und erinnert daran, dass ganz in der Nähe Europas größte und hochwertigste Tonvorkommen liegen.
Ein zufälliger Instagram-Kontakt hat Caro Fröhlich und eine Frankfurter Keramikkünstlerin zusammengebracht; nun stehen Teller und Tassen aus einer Westerwälder Keramikmanufaktur in den Regalen. Die handgefertigten Einzelstücke zeugen vom Willen, den Gästen etwas Besonderes anzubieten. Regionale Unikate, Dinge, die nicht austauschbar sind, die genau an diesen Ort gehören. So wird selbst das Abspülen zum Erlebnis. Ganzheitlich – ein viel zu häufig benutzter Begriff, bei der Kleinen Bleibe aber trifft er den Punkt. Und am Ende ist man selbst erstaunt, mit wie wenig man doch glücklich sein kann.

Text: Anke Frey
Fotos: © Célia Uhalde
Der Beitrag erschien erstmals in unserer Buchveröffentlichung Orte & Visionen.
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