Stadthaus Arnstadt – Wunderkammer des fein(sinnig)en Lebens
Am Pfarrhof 1, an einem malerischen Platz im historischen Kern von Arnstadt, steht ein denkmalgeschütztes Gebäudeensemble, das kontrastreicher nicht sein könnte: Ein 430 Jahre altes Fachwerkhaus mit kuriosem Lebenslauf und ein Industriegebäude von 1903.
In diesen Bauten war 120 Jahre lang – von 1870 bis kurz nach der Wiedervereinigung – die Handschuhfabrik Julius Möller untergebracht. Nach der Wende wurde die Produktion eingestellt, das Ensemble stand 15 Jahre lang leer und verfiel, bis Judith Rüber und Jan Kobel es 2005 entdeckten und sich in den rohen Industriecharakter und die hohen, lichtdurchfluteten Nähsäle verliebten. Sie kauften die Möller’sche Fabrik und das Fachwerkhaus und sanierten beide Gebäude preisgekrönt behutsam.
2013 eröffnete das Hotel Stadthaus Arnstadt seine Tore und beflügelt seine Gäste seitdem mit einem unkonventionellen Mix aus stimmiger Architektur, feiner Küche und mußevoller Kulturerfahrung. Das Stadthaus gleicht dabei einer interdisziplinären Wunderkammer und entzieht sich – Gott sei Dank – jeglicher touristischen Kategorisierung. Schuld daran sind allein die Gastgeber und ihre Liebe zu den wahrhaft schönen Seiten des Lebens, von Bach bis Bauhaus.
Das Wesen eines Ortes
Jan Kobel ist Fotograf. Seine Bilder nehmen Szenen unter die Lupe, die auf den ersten Blick ganz unspektakulär sind. Industriebauten. Bauhaus-Flure, Venedig ohne Tauben. New Yorker Straßenszenen. Momentaufnahmen eines ungeschminkten, teils in die Jahre gekommenen Alltags. Doch genau dadurch entsteht eine überzeugend eindringliche Bildsprache: Sie destilliert die Essenz von Architektur, macht das Wesen eines Ortes fühlbar und übersetzt Form und Patina in Poesie. Jan Kobels Fotoserien vermögen es, die leisen Zwischentöne eines Augenblickes oder Motivs wahrzunehmen und diese sichtbar zu machen.
In gemeinsamer Arbeit mit seiner Frau Judith Rüber sind in den letzten Jahren ganz besondere Reisebücher entstanden, die Destinationen nicht auf wohleingetretenen Trampelpfaden erkunden, sondern den Leser in der Kunst des Müßigganges und des achtsamen Wahrnehmens schulen, um Venedig, New York oder Ibiza auf Nebenwegen und aus dem Blickwinkel seiner Bewohner zu erschließen. Slow Travel im wahrsten Sinne des Wortes. Jan Kobels Fotos und Judith Rübers Texte erzählen die Reiseziele ungefiltert und aus nächster Nähe. Die kulturelle Vielfalt, die einheimische Lebensart, Genuss und ganz alltägliche Rituale rücken in den Fokus der Betrachtung, werden unmittelbar erfahrbar und hinterlassen einen lange nachklingenden Eindruck. Das Hotel Stadthaus Arnstadt hat auf seine Besucher genau diese Wirkung.
Feine Lebensart in all ihren Facetten
Google spuckt in Bezug auf das Suchwort „Arnstadt“ zu allererst Johann Sebastian Bach, das Barockzeitalter und die erste urkundliche Erwähnung der Thüringer Bratwurst aus. Damit wird man dem Wesen der Stadt – wer hätte es gedacht – nicht einmal ansatzweise gerecht. Arnstadt ist eine alte Handelsstadt und damit seit jeher ein Ort, der sich den Einflüssen fremder Lebenswelten und neuen Perspektiven öffnet. Das spürt man auch heute noch. Die lichte Weite seiner dreieckigen Plätze, überhaupt die ganze Topografie der Stadt, ist an allen Ecken und Enden auf Kommunikation und Interaktion ausgelegt und schafft so ansprechende Erlebnisräume. Arnstadt liegt im Herzen von Thüringen und ist doch vom Flair mediterraner Städte und ihrem Savoir-vivre durchzogen. Und von Musik. Von Bach bis Jazz.
Die Liste der einstigen Bewohner des Stadthauses ist lang und kurios, doch es gibt einen roten Faden. Feine Lebensart – in all ihren Facetten: Gräfliche Kalkschneider, die Schwester eines kunstsinnigen Fürsten (Johann Sebastian Bachs Arbeitgeber), ein Kirchenprediger (noch immer sitzt Bach an der Orgel), Numismatiker, Raritätensammler, Geldzähler, Mädcheninternatslehrer, die dazugehörigen Primanerinnen und ein Handschuhfabrikant, der mit seinen Lederkreationen die Köpfe der feinen Pariser Gesellschaft verdrehte.
Die Möller’sche Handschuhfabrik hatte sich im 19. Jahrhundert einen internationalen Namen für feine thüringische Lederhandschuhe gemacht und im Edelkaufhaus Lafayette stand man sich die Beine in den Bauch, um den letzten Schrei in Sachen Handschuhmode made in Arnstadt zu erstehen. Nach 1990 schloss Julius Möller seine Pforten und es wurde zunächst einmal zappenduster für das Hausensemble gegenüber der Oberkirche (auch Johann Sebastian war ja schon länger – wenn auch nur vorübergehend – aus der Mode gekommen).
Work-flow und Genius Loci
Die Sanierung des Ensembles („Das Haus gab vor, was mit ihm passiert“) holte nicht nur alten Baubestand behutsam ans Licht sondern auch seine einstige Funktion als urbaner Think Tank und Ort der Begegnung in Sachen Kunst, Kultur und feiner Lebensart. Im Stadthaus, in dem die Lebensbereiche Wohnen und Arbeiten seit jeher fließend ineinander übergehen, schließen sich mußevoller Urlaub und inspirierter Work-flow keineswegs aus und der aktuell viel zitierte Begriff „Bleisure“ ist hier kein Trend sondern vielmehr Teil des Genius Loci.
In den weitläufigen, lichtdurchfluteten Nähsälen der Fabrik ist die „Kulturetage“ entstanden und zieht – technisch perfekt ausgestattet und mit einem zentralen Steinway-Flügel – je nach Bedarf alle möglichen Nutzungsregister: Location für Workshops und Seminare, Modeshootings und Produktpräsentationen. Konzertsaal, Kunstgalerie, Laufsteg, Fotostudio. Sehr zu empfehlen: Die Veranstaltungen im Rahmen des Arnstädter Bach:Sommers unter der künstlerischen Leitung von Joshua Rifkin. Wer im Stadthaus logiert, wird in der Kunstetage viel Zeit verbringen wollen. Der rohe Industriecharakter ist nach wie vor tonangebend und wenn man die Augen schließt, wird man sich dabei ertappen, dem gleichmäßigen Rattern der Möller’schen Nähmaschinen nachzuhorchen.
Wohnen im Denkmal, zeitgenössisch durchdekliniert.
In den schönen Gemeinschaftsräumen – Bohlenstube und ehemaliges Schwarzküchengewölbe – sowie den sechs lichtdurchfluteten Zimmern des alten Fachwerkhauses wurde alter Bestand ans Licht geholt und stimmig in Szene gesetzt, neue Elemente integrieren sich harmonisch und wohl dosiert, so dass der ursprüngliche Charakter des Hauses erfahrbar bleibt und doch nie das Gefühl von „Wohnen in alten Gemäuern“ aufkommt. Es trieft hier vor Geschichte, doch sie hat nichts Altbackenes oder Melancholisches an sich. Im Stadthaus Arnstadt ist Geschichte begehbar und erlebbar, aber aus einer durch und durch modernen Perspektive. Wohnen im Denkmal, zeitgenössisch durchdekliniert. Mit feinstem Gespür für stimmige Raumkonzepte, himmlischen Genuss und ganz besondere Inhalte.
Der Milchhof. Bauhaus 2019.
Das Hotelierspaar Rüber-Kobel hat ein Faible für verlassene Industriebauten und für das Potential, das in ihnen als Orte erlebnisorientierter Architektur- und Kulturerfahrung schlummert. 2014 erwarb Jan Kobel mit einem Partner den Milchhof Arnstadt (1928) des Architekten Martin Schwarz als Mitgesellschafter der Baudenkmal Milchhof Arnstadt GmbH. Das Ziel: Den Milchhof als ein herausragendes Beispiel der Bauhaus-Architektur denkmalgerecht zu sanieren und ihn als multifunktionales Kunst- und Kulturzentrum zu etablieren. Dabei skizziert Jan Kobel den zukünftigen Milchhof ganz im Sinne der Bauhaus-Philosophie: „Eine Architektur, die nicht nur schlicht und schön ist, sondern auch Arbeitsabläufe optimiert, Kosten minimiert, Licht ins Haus lässt und überhaupt die Interessen der Menschen, die in ihr leben und arbeiten, reflektiert.“ Es kommt also nicht von ungefähr, dass der Milchhof Teil des vom Bauhaus Verbund 2019 konzipierten Jubiläumsprogramms 100 jahre bauhaus sein wird. Bisher wurde das Erdgeschoss des Milchhofes soweit saniert, dass dort bereits Veranstaltungen und Architektouren stattfinden können. Die Gäste des Stadthauses pilgern sonntags gemeinsam mit den Bauherren zum Milchhof und merken schnell: dieser Ort hat es in sich.
In der Rede zur Verleihung des Thüringischen Denkmalschutzpreises nannte der Landeskonservator das Stadthaus einen „wichtigen städtebaulichen und kulturellen Nucleus für die Entwicklung Arnstadts“. In der Tat scheint es, als habe das Stadthaus (und auch seine Gastgeber!) die Funktion eines Pendels übernommen, das sich seines Zentrums und Schwerpunkts wohl bewusst ist und dennoch die Beweglichkeit und den Antrieb hat, stetig in alle Richtungen auszuschlagen um andere Sphären und Wirkungskreise zu berühren und dort Entwicklungen anzustoßen. Man darf gespannt sein…
Text: Britta Krämer, November 2017
Alle Bildrechte liegen bei Jan Kobel.
5 Kommentare
Danke für die Story, in der sich ein an und für sich schon schönes Haus zu einem ganzen Kosmos öffnet. Der "Blick hinter die Fassade" war sehr aufschlussreich und macht Lust gleich aufzubrechen – auf nach Arnstadt!
…wenn ich es nicht mit eigenen Augen, Ohren, Geschmacksnerven und sonstigen Sinnen erlebt hätte…ich würde es für Schönmalerei halten. Die Fotos sind toll! Die Wirklichkeit ist besser.
… tolle Würdigung einer tollen Leistung!
danke an die homestorytellers -eigentlich seid Ihr ja Perlentaucher
AUF nach ARNSTADT!
oder gibt es nach diesen fotografischen Augen- und Einblicken noch jemanden der nicht voller Hochachtung für und Neugier auf diese visionären und mutigen Projekte wäre ?
Grandioses Projekt! Die Photos – einfach Klasse…