The Modernist(s)
Mon Oncle, South Modern und ein Umzug von Paris ins tiefe Blau von Faro. Die Geschichte eines schöpferischen Dominoeffekts, der in der Wüste von Arizona begann.

Leben zwischen Linien
Neue Materialien, klare Formen, offene Grundrisse sowie eine rein zweckorientierte Herangehensweise an die Funktion von Gebäuden und Objekten: Minimalismus ohne Schnickschnack und historische Last war die gestalterische Prämisse des Modernismus, der sich ab den 1920er-Jahren zur wichtigsten epochalen Bewegung entwickelte. Für die Architektur fand er in Le Corbusier, Frank Lloyd Wright, Niemeyer, Mies und Gropius seine Wegbereiter und Protagonisten. Ihre Prinzipien verbreiteten sich wie eine Welle einmal rund um den Globus und brachten – von Brasilia bis Dessau – eine Vielzahl von Typologien und regionalen Ausprägungen hervor. Bemerkenswerte, nicht selten kritisch beäugte Bauten und Lebensräume der vom wirtschaftlichen Aufschwung berauschten Modern Times. Ihre Architektur ist selten Liebe auf den ersten Blick, doch hinter den nüchternen Formen und Fassaden wohnen visionäre Grundgedanken, die unsere Zeit zutiefst geprägt und modelliert haben.


Als geistiger Vater der Betonstädte dieser Welt definierte Le Corbusier das Haus als „eine Maschine zum Wohnen“. Wer weiß, ob der französische Regisseur und Schauspieler Jacques Tati die Worte und die Villa Savoye des Schweizer Architekten im Kopf hatte, als er 1958 mit der französischen Satire „Mon Oncle“ Filmgeschichte schrieb. „Geometrische Linien bringen keine liebenswürdigen Menschen hervor“, kommentierte der Meister wortkarger Komik seinen Oscar-prämierten Film, in dem sterile, modernistische Wohnkonstrukte und ein charmant-marodes Paris mit Patina zu Metaphern für die kontrastierenden Lebenswelten der Nachkriegszeit wurden. Dabei legte sich Tati keineswegs mit der modernen Architektur an sich an, vielmehr mimte er meisterhaft eine Frage in die Köpfe seines Publikums: Kann sich wahres, warmes Leben zwischen all der Reduktion und glatten Ästhetik frei entfalten?
„Mais oui, bien sûr!“ würden ihm heute zwei seiner Landsleute begeistert entgegnen. Angélique und Christophe De Oliveira, hingerissen von ihrem „Esprit moderne“, haben 2018 die portugiesische Hafenstadt Faro zu ihrer zweiten Heimat auserkoren und sich mit Leib und Seele einer ganz persönlichen Mission verschrieben: Sie wollen dem nahezu unbekannten modernistischen Erbe der sonnenverwöhnten Hauptstadt der Algarve zur wohlverdienten Aufmerksamkeit verhelfen und Faro als lebendiges Forum für Architekturfans aus aller Welt etablieren.
South Modern
Die südlichste und noch weitgehend unentdeckte Metropole Portugals überrascht mit einem außergewöhnlich breiten Spektrum modernistischer Bauten. Umgeben von den Lagunen des Naturparks Ria Formosa, entfaltet sich die Stadt in einem Spannungsfeld der Kontraste: Wilde Küsten und stille Salinen treffen auf ein labyrinthisches Gassengewirr, vielschichtige Historie und tropischen Flair sowie ein Kaleidoskop an kulturellen Einflüssen und städtebaulichen Epochen. Über moderne Architektur stolpert man hier sprichwörtlich auf Schritt und Tritt.

Zwischen 1920 und 1979 entstanden hier rund 500 Gebäude, deren beispiellose Präsenz einer Handvoll visionärer Architekten, Absolventen der renommierten Architekturschule von Porto, sowie ihren ebenso weitblickenden Bauherren zu verdanken ist. Letztere waren meist Portugiesen, die in Brasilien zu Wohlstand gekommen waren und von dort ihre Eindrücke und Vorstellungen der „Tropischen Moderne“ zurück in die Heimat brachten. Architekten wie Manuel Gomes Da Costa, Fernando Távora (Doktorvater der Pritzker-Preisträger Alvaro Siza und Edouardo Souto de Moura), Antonio Vicente Castro oder Joel Santana realisierten ihre ureigene Interpretation des Bauhauses und des internationalen Stils, indem sie ihr Repertoire um die tropischen Visionen ihrer Auftraggeber erweiterten, an das Klima und an lokale Bautypen anpassten und so der Algarve ihren ganz eigenen Stil bescherten. „South Modern“ – so jedenfalls nennen ihn zwei seiner leidenschaftlichsten Fans.
Paris, Miami und die Wüste
Angélique De Oliveira stammt aus einem kleinen Ort bei Paris, ihr Mann Christophe kommt aus der Nähe von Nancy, hat aber portugiesische Wurzeln. Die beiden lernten sich an der Skema Business School kennen, lebten nach dem Studium eine Weile in Boston, bis es beide wieder zurück in die französische Hauptstadt und sie ins Marketing, ihn ins Finanzwesen verschlug. 2006 initiierten sie gemeinsam das Projekt der „Artisan Lofts Paris“ – eine kleine Kollektion ganz unterschiedlich gestalteter Lofts, die in ehemaligen Ateliers von Künstlern und Modedesignern sowie in umfunktionierten Geschäftslokalen entstanden. Die Idee dahinter war, Reisenden eine neue Perspektive zu bieten, aus der sie Paris für sich entdecken konnten, inspiriert vom kreativen Flair der Unterkünfte und eingebettet ins nachbarschaftliche Umfeld der authentischen Viertel der Ville Lumière.
In Florida entdeckte das Paar auf einer Tour durch Miami die Art-Deco-Bauten von South Beach – und da funkte es: „Dieses Erlebnis hat in uns eine wahre Besessenheit für die Bauten der Moderne ausgelöst. Architektur und Design wurden fortan zum Hauptgrund unserer Reisen, die uns auch immer wieder an die Algarve und zurück zu meinen Wurzeln führten“, erzählt Christophe. Es folgten Roadtrips auf den Spuren von Frank Lloyd Wright durch Kalifornien und Arizona. Der Besuch des Taliesin West Center in Scottsdale, dem Winterquartier und Wüstenlabor des Meisters, rief einen ganz bestimmten Ort in Erinnerung: „Mitten in der kargen Landschaft von Arizona sahen wir das architektonische Potenzial von Faro mit ganz neuen Augen.“ Und wieder funkte es.
Das hässlichste Haus der Stadt
Wer im Gassengewirr von Faro durch die quirlige Rua Francisco Gomes schlendert, schenkt dem Haus mit der Nummer 27 sicher keine große Aufmerksamkeit. Doch hinter der zurückhaltenden Fassade verstecken sich nicht nur besondere Urlaubsräume, sondern auch ein Paradebeispiel wiederbelebten Kulturguts. Das Gebäude entstand in den frühen 1970er-Jahren nach Plänen von Joel Santana und beherbergte das Zollbüro einer Reederei. „Im Zuge des Beitritts Portugals zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft schloss das Unternehmen, und das Haus blieb herrenlos, bis wir es 2016 entdeckten“, erinnert sich Angélique, „der erste Eindruck war katastrophal: ein tristes und von Tauben erobertes Gebäude, das nach 35 Jahren Leerstand komplett baufällig war.“ Den Einwohnern von Faro war es ein Dorn im Auge, weil es mitten in der Fußgängerzone lag und sein marodes Äußeres wie eine Wunde im Herzen der Stadt wirkte.


Es wurde als das hässlichste Gebäude von Faro beschimpft und trug dazu bei, dass der Modernismus hier mit Dekadenz assoziiert wurde. Der Verstand ermahnte zur Vernunft und riet, einen großen Bogen um das Haus zu machen, doch etwas ließ die beiden nicht los: das Déjà-vu der klaren Linien, der rohen Materialien und der monochromen Farbgebung. In dem verwahrlosten Bau ließen sich modernistische Elemente erahnen, die zu bewahren und wieder ans Licht zu holen zur fixen Idee des Paares wurde. „Unsere Pariser Erfahrung mit aussichtslos erscheinenden Restaurierungsprojekten, die uns die ‚Artisan Lofts‘ gelehrt hatten, gab uns den entscheidenden Anstoß und wir beschlossen, das Gebäude zu kaufen und es zur bewohnbaren Hommage an den Modernismus umzugestalten.“
The Modernist
Den Umbau vertrauten Angélique und Christophe dem preisgekrönten Architektinnen-Trio PAr an. Die Projekte von Joana Carmo Simões, Susana Dos Santos Rodrigues und Vânia Brito Fernandes bewegen sich im Spannungsfeld von vernakulärer Formensprache, lokalem Handwerk und zeitlosem Minimalismus. PAr plante und renovierte unter der Prämisse, den ursprünglichen Charakter des 1970er-Jahre-Baus ans Licht zu holen und zu akzentuieren. In enger Zusammenarbeit mit ortsansässigen Handwerkern und unter Verwendung der originalen Materialien, entwarfen sie auch das Interieur. Jedes Element – vom Türgriff bis zum steinernen Küchenblock – ist ein Unikat und wurde regional gefertigt, um den ökologischen Fußabdruck besonders kleinzuhalten und die Einbindung lokaler Betriebe zu fördern.


„PAr hat während der dreijährigen Umbauphase Unglaubliches geleistet, um unserer Vision Gestalt zu geben, denn wir standen vor unzähligen Herausforderungen, sowohl was das Zeitmanagement und die Materialbeschaffung mitten in der Pandemie als auch das Budget betraf. Doch es war die Mühe wert! Das Projekt war die Probe aufs Exempel, dass Kulturgut dann am nachhaltigsten bewahrt wird, wenn es mit guten Ideen und frischem Wind neu bespielt wird“, sind die De Oliveiras überzeugt.
Ende 2021 eröffneten die beiden The Modernist und bieten seitdem Reisenden mit einem Faible für besondere Orte ein inspirierendes Zuhause auf Zeit. Wer am Hafen aus dem Flughafentaxi steigt, steht nach wenigen Gehminuten vor dem Eingang des Apartmenthauses. Ein Nummerncode bringt das Gittertor zum Summen, die Türe klackt und die automatisierte Schlüsselbox schnappt auf. Angewandter Modernismus, original vertont: „Mon Oncle“ lässt grüßen.



Das Treppenhaus gibt auf vier Etagen Zugang zu den privaten wie gemeinschaftlich nutzbaren Bereichen des Hauses. Der introvertierte, begrünte Patio schenkt Schatten und tropische Atmosphäre, die Dachterrasse wird zum Logenplatz bei Sonnenuntergang. Darunter liegen die sechs Suiten, die durch Reduktion und Materialität bestechen. Auf je 45 m2 entfalten sich intime und doch offene Räume, die alles, aber von allem nur das Nötigste haben. Einen Fernseher gibt es nicht, das Spektakel ist der Himmel über Faro. Wer in modernistischer Entdeckerlaune ist, dem bietet die für die Hausgäste konzipierte Stadttour in Eigenregie eine großartige „Gebrauchsanweisung“.


Moderne Pilger
Die erfolgreiche Wiederbelebung von Faros ehemaligem Schandfleck scheint in Angélique und Christophe ein schöpferisches Perpetuum Mobile in Gang gesetzt zu haben. Bereits ein Jahr nach der Eröffnung von „The Modernist“ fand im November 2022 die erste Edition von „The Moder-nist Weekend“ statt: Ein dreitägiger, internationaler Event mit vielseitigem Programm, zu dem Architekturbegeisterte aus Europa und den USA nach Faro pilgerten, um mit dem modernistischen Erbe der Stadt auf Tuchfühlung zu gehen. Bei Open-House-Besichtigungen, die den Teilnehmern die Türen einer sorgfältig kuratierten Auswahl an Privathäusern, Renovierungsprojekten sowie Verkaufsimmobilien öffnete. Die von Christophe mit ansteckender Begeisterung geführten Touren auf den Spuren von Art-Deco, Brutalismus, tropischer Moderne und Bauhaus „à Portuguesa“ entfachten regen Austausch, der seine Fortsetzung beim Aperitif im kultigen Strandhotel Aeromar fand.

Bei so viel menschlicher Interaktion hätte sich auch Tati versöhnlich gezeigt, schließlich resümierte er nach dem Filmerfolg von „Mon Oncle“ : „Ich bin überhaupt nicht gegen moderne Architektur, aber ich glaube, sie sollte nicht nur mit einer Baugenehmigung, sondern auch mit einer Lebenserlaubnis einhergehen.“ Diesen Ratschlag haben Angélique und Christophe verinnerlicht und das spürt man, ob beim einem Spaziergang an der Mole oder beim gemeinsamen Sundowner auf der Dachterrasse der Rua Francisco Gomes Nr. 27. Hier, zwischen geometrischen Linien, Taubengurren und dem tiefen Blau der Algarve, entfaltet sich das Leben wahr und warm wie eh und je.
Text: Britta Krämer
Fotos: © Joao Mascarenhas (Exterior- und Interiorfotos), © Christophe de Oliveira (Guided Walking Tour), © Aymeric Warmé-Janville (Portraitfoto)
Der Beitrag erschien erstmals in unserer Buchveröffentlichung Orte & Visionen.
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