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Reisefieber #10: Kinderverschickung

Reisefieber – die Kolumne von Wolfgang Bachmann auf URLAUBSARCHITEKTUR

Es gab früher eine Strafe für Kinder, die schlechte Esser waren: Sie wurden in ein Kinderheim mit einem so genannten Reizklima verschickt.

Nach dem Krieg galten schlechte Esser als Schicksalsschlag, vergleichbar Kindern mit angeborenen Behinderungen, Missbildungen oder Geisteskrankheiten. Eltern und Großeltern examinierten so ein störrische Kind, erzählten in leuchtenden Farben, was sie alles durchgemacht hatten, erinnerten an Hungersnöte und Teuerung, und vor allem daran, dass nur die Starken eine Chance zum Leben bekommen, während die anderen krepierten. Das war drastisch in der Formulierung, manchmal sagte man sogar „verreckten“ – Krieg war eben kein Spaß.

Doch das obstinate Kind wollte nicht essen. Es zeigte sich uneinsichtig und undankbar, als mochte es mit seinem antizyklischen Wirtschaftswunderverhalten seine Eltern ärgern. Da Schläge nichts fruchteten und man sie schweren Herzens auch als unzeitgemäßes Erziehungsmittel akzeptierte – ohne allerdings eine Alternative zu kennen –, ging man mit dem Kind zum Arzt und ließ ihm eine Kur verschreiben. Nach Bad Dürrheim. Dort gab es ein von Nonnen geleitetes Kinderheim, in das bereits vor dem Krieg irgendwelche Verwandten zur erfolgreichen Reichsnährmästung geschickt worden waren.

Man lieferte das Kind ab, das tapfer und verlegen ein Mehrbettzimmer bezog. Die Frolleins ohne Schwesterntracht gefielen ihm besser, sonst gefiel ihm nichts. Es war sofort krank vor Heimweh, wollte mit niemandem spielen, weder inhalieren, mittags schlafen noch massiert werden, weder Lieder singen, noch im Kurpark spazieren. Und Nudeln mit Soße fand es einfach eklig. So vergingen die Wochen, das Kind nahm nicht zu, es saß immer im Schatten und wartete auf das Ende der Kur. Außerdem verliebte es sich in ein zwanzig Jahre älteres Frollein, das ihm mit verheulten Augen Gutenachtgeschichten vorlas. Schließlich wurde das Kind von seinen Eltern wieder abgeholt.

„Das ist ein ganz Braver“, rapportierte die Schwester, „der hat uns gar keine Arbeit gemacht.“ Das Kind strahlte. Hatte keiner gemerkt, dass er seinen halbvollen Teller immer dem dicken Seppi weitergereicht hatte.

Wolfgang Bachmann war Chefredakteur und danach Herausgeber der Architekturzeitschrift “Baumeister”. Neben seiner journalistischen Arbeit ist er weithin bekannt für seine oft augenzwinkernden Kolumnen z.B. im Baumeister und für die Süddeutsche Zeitung. Wolfgang Bachmann schreibt ab 2014 regelmässig für URLAUBSARCHITEKTUR.

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