Reisefieber – die Kolumne von Wolfgang Bachmann auf URLAUBSARCHITEKTUR
Vor Gericht und auf hoher See gelten andere Regeln, heißt es. Diese Warnung hat Ihren Schrecken weitgehend verloren, jedenfalls was Schiffsreisen betrifft. Doch der Reihe nach.
Als sich vor etwa hundert Jahren die Architekten zur Moderne bekannten, verbanden sie damit die Vision einer neuen Gesellschaft. Dass ihre Häuser helfen würden, einen gerechten Sozialismus einzuführen, um allen gleiche Chancen und gleiches Glück zu bieten, haben die avantgardistischen Baukünstler nicht wirklich erwartet. Ihre rationelle Architektur sollte nur die gleichartigen Gehäuse liefern, die nicht das Individuum mit herrschaftlichen Schmuckformen auszeichneten, sondern breiten Schichten der Gesellschaft eine Behausung boten. Als einziges Ornament verständigte man sich – vom Fortschritt der Mobilität fasziniert – auf das Dampfermotiv. Häuser wie weiße schwimmende Schiffe! Mit gläsernen Kommandobrücken, mit Bulllaugen, Kaminen, Masten, Stegen, Sonnensegeln sollte der Aufbruch der Gesellschaft Gestalt annehmen. Aber schon kurze Zeit später zeigte sich der Symbolverfall, dass sich maritime Metaphern nicht ungestraft translozieren lassen. Der Dampfer hatte ausgedient und hinterließ nur originelle Bauschäden.
Tatsächlich kehrte sich das Bild aber nur um. Denn nun übernahm die Seefahrt die Ästhetik des Mietwohnungsbaus. Als ging es um den wasserdichten Gegenbeweis werden heute Kreuzfahrtschiffe gebaut, deren turmhohe Bordwände wie Hausfassaden aussehen. Gestapelt wie bei einem Containerfrachter gleichen die schwimmfähigen Wohnsilos herumtreibenden Stadtteilen. Auch die urbane Infrastruktur ist mit an Bord: Tennisplätze, Schwimmbäder, Läden, Restaurants, Diskotheken und veritable Konzertsäle. Einzige Bedingung: Es darf nichts an ein Schiff erinnern! Die 3000 Urlaubspassagiere, die von 1500 Besatzungsmitgliedern betreut werden, sollen sich auf ihrem Traumschiff wie in einem traditionellen Hotel fühlen. Jedes Jahr läuft ein noch größeres Trumm vom Stapel. Der Kapitän ist eine Art Oberbürgermeister mit Schifferpatent.
Und woran orientiert sich die Architekturavantgarde inzwischen? An Kuckucksuhren oder Stealth-Bomber. Gottlob halten Symbole nicht ewig.
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Wolfgang Bachmann war Chefredakteur und danach Herausgeber der Architekturzeitschrift “Baumeister”. Neben seiner journalistischen Arbeit ist er weithin bekannt für seine oft augenzwinkernden Kolumnen z.B. im Baumeister und für die Süddeutsche Zeitung. Wolfgang Bachmann schreibt ab 2014 regelmässig für URLAUBSARCHITEKTUR.
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