Reisefieber – die Kolumne von Wolfgang Bachmann auf URLAUBSARCHITEKTUR
Wenn ich mit meinen Eltern in Urlaub gefahren bin, hatte ich immer einen alten Taschenkalender dabei. Darin zeichnete ich mit einem Bleistiftstummel oder einem klecksenden blauen Kugelschreiber amerikanische Straßenkreuzer, die uns gerade überholt hatten. Sie imponierten mit ihren Doppelscheinwerfern und Heckflossen, da kam unser Opel Kapitän einfach nicht mit. Sonst war ich mit dem Autofahren auf dem Rücksitz, bisweilen sogar vorne zwischen den Eltern auf der ungeteilten Polsterbank des Sechssitzers ganz zufrieden. Es gab weder Sicherheitsgurte, noch Airbags, Nackenstützen oder gar einen Kindersitz. Heute würde man sagen, das war doch kriminell! Aber nach dem Krieg, als man endlich aus Bunkern und Armeefahrzeugen herauskrabbeln konnte, war es schon ein großer Sicherheitsgewinn, dass man in seinem Fahrzeug nicht beschossen wurde.
Mein Vater chauffierte wie ein Kapitän, sein Auto hatte den Namen nicht umsonst bekommen. Unser Ziel hätten wir in einem alten Atlas mit den Grenzen von 1937 finden können. Aber diese Blöße gab sich Vater nicht. Er hatte in Erdkunde aufgepasst und würde doch noch den Vierwaldstättersee, Dannenfels oder Klosterreichenbach finden! Etwas Abenteuer war natürlich schon dabei. Das Auto wollte manchmal nicht anspringen, oder es konnte einen Platten geben. Dann hielt Vater einen Lastwagen an und bat den Fahrer, den kaputten Reifen zu wechseln. Dafür gab er ihm eine Schachtel Zigaretten und zwei Mark extra. Ein Kapitän rührte doch kein Autowerkzeug an! Außerdem konnte das Benzin knapp werden, das Kühlwasser zu heiß, das Schiebedach klemmen. Mutter regte das alles sehr auf.
Heute ist das anders. Die Autos finden ihren Weg allein, sie sind wohltemperiert, mit orthopädischen, beheizten Sitzen ausgestattet, und statt eines knarzenden Röhrenradios mit Zerhacker begleitet uns Musik in höchster Wiedergabequalität, die bei Bedarf von Informationen über Straßenzustand, Wetter, Börse und Weltlage unterbrochen wird. Das Kind ist in einen überrolltauglichen Schalensitz geschnallt, der alle paar Jahre durch ein größeres, noch sichereres Modell ersetzt wird. Es kriegt Saft und Kräcker, rechtsdrehendes Müsli und glutenfreie Waffeln für die strapaziöse Reise. Außerdem ein Tablet und ein Smartphone, weil das mit den Kinderkassetten schon wieder vorbei ist. Die Eltern lesen Elternzeitschriften, um keine frühkindlichen Traumata durch eine Urlaubsreise zu riskieren. Eine Mutter regt das alles sehr auf.
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Wolfgang Bachmann war Chefredakteur und danach Herausgeber der Architekturzeitschrift “Baumeister”. Neben seiner journalistischen Arbeit ist er weithin bekannt für seine oft augenzwinkernden Kolumnen z.B. im Baumeister und für die Süddeutsche Zeitung. Wolfgang Bachmann schreibt ab 2014 regelmässig für URLAUBSARCHITEKTUR.
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