Reisefieber – die Kolumne von Wolfgang Bachmann auf URLAUBSARCHITEKTUR
Meine ersten Ferien im Ausland verbrachte ich mit meinen Eltern in der Schweiz. Das galt schon in den 50er Jahren als luxuriös. Aber Geld hatte man auch im Wirtschaftswunder nicht zu verschenken. Ich war damals sieben Jahre alt. Das weiß ich deshalb, weil man am Vierwaldstättersee bis sechs Jahre kostenlos auf den Raddampfern mitfahren durfte. Natürlich wollten die Eltern den Fahrschein für mich sparen, und mein Vater schärfte mir ein, bei einer Kontrolle zu sagen, ich sei erst sechs Jahre alt. Das brachte mich in große Gewissensnot, denn natürlich durfte man nicht lügen, aber man musste auch seinen Eltern gehorchen. Ich brachte deshalb unsere zahlreichen Dampferausflüge immer still und eingeschüchtert hinter mich. Wahrscheinlich habe ich es mir so erklärt: Die Schweiz zählt als Ausland und war nicht katholisch.
Im Grunde genommen machte ich damit bereits eine grundlegende Erfahrung. Denn ist die eidgenössische Alpenrepublik nicht bis heute ein Protektorat von Lüge und Diplomatie? Die vielen Nummernkonten, die hier im Lauf der Jahrzehnte – in diesem Fall von volljährigen Betrügern – angelegt wurden, haben vielleicht ihren Anstoß durch frühkindliche Schwarzfahrten auf dem Vierwaldstättersee erhalten. Mich wundert, dass ich nicht selbst straffällig geworden bin und mich dem Heer der Steuerdissidenten angeschlossen habe. Die Voraussetzungen wären gegeben gewesen. Vielleicht muss man dafür im finanziellen High-End-Bereich tätig sein.
Was die Schweiz noch auszeichnet und ihr den Nimbus der Unwirklichkeit gibt, ist ihre währschafte Neutralität. Damit kommen wir zur Diplomatie. Als ich mit meinen Eltern mitten im schönsten Kalten Krieg dort Urlaub machte, wusste ich bereits, dass die Schweizer zwei Weltkriege ausgelassen hatten und mit ihren tückischen Armbrüsten ein kaum zu kalkulierender Gegner waren. Und sie versteckten sich nicht einmal in ihrem schroffen Bergidyll. Selbst auf den abgelegensten Almen wehten riesige Flaggen, auch vor jedem Hotel, an jedem Dampfer, an öffentlichen Gebäuden sowieso hingen diese quadratischen roten Laken mit dem weißen Kreuz. Mir kam das damals vor wie eine Schutzimpfung: Die roten Fahnen markierten Orte, denen die Welt nichts anhaben durfte. Das haben die internationalen Geldanleger schon immer so gesehen: als eine Art ausgeflaggtes Zeugenschutzprogramm für ihre Konten.
—
Wolfgang Bachmann war Chefredakteur und danach Herausgeber der Architekturzeitschrift “Baumeister”. Neben seiner journalistischen Arbeit ist er weithin bekannt für seine oft augenzwinkernden Kolumnen z.B. im Baumeister und für die Süddeutsche Zeitung. Wolfgang Bachmann schreibt ab 2014 regelmässig für URLAUBSARCHITEKTUR.
Ein Kommentar
Kommentar übersetzen