Wo sich Kontinente berühren: Die Exklave Melilla
Enrique Nieto und der Jugendstil in Melilla. Eine Stadt der europäisch-nordafrikanischen Moderne, an der Schnittstelle zwischen vier Kulturen, zwei Kontinenten und zahlreichen Perspektiven.

Schon beim Anflug wirkt die Stadt wie ein geopolitisches Kuriosum: eine spanische Enklave auf afrikanischem Boden, umgeben von Meer und marokkanischem Hinterland. Der Blick aus dem Flugzeugfenster zeigt Grenzzäune, das Türkisblau des Mittelmeers und ein Raster aus klar gezogenen Straßen. Kaum berühren die Reifen die Landebahn, wird deutlich: Hier verläuft nicht nur eine Grenze zwischen Staaten – sondern auch eine Schnittstelle zwischen Kulturen, Kontinenten und Perspektiven.


Melilla, von den Einheimischen als „Stadt der vier Kulturen“ bezeichnet, blickt auf eine lange und reiche Geschichte zurück. Die früher unter dem Namen Rusadir bekannte Stadt wurde bereits um 1100 v. Chr. als Teil einer phönizischen Kolonie gegründet und geriet später unter punische und dann unter römische Kontrolle. Nach der arabischen Invasion des Maghreb herrschten im Mittelalter verschiedene muslimische Kalifate über das Gebiet. Nach der Eroberung durch Spanien im Jahr 1497 blieb Melilla auch nach der Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956 unter spanischer Herrschaft. Diese kontinuierliche spanische Herrschaft prägt bis heute den einzigartigen rechtlichen und kulturellen Status Melillas. Dank seiner dynamischen Vergangenheit als Ort der Einwanderer und Eroberer leben in Melilla vier Kulturen nebeneinander – die spanisch-christliche, die muslimisch-berberische, die jüdische und die hinduistische -, die oft an derselben Kreuzung sichtbar sind, im täglichen Leben, bei Festlichkeiten und in der Architektur.
Heute kennt man die Enklave von Nachrichtenbildern, die zunächst nichts mit Baukultur zu tun haben. Es geht um Menschen auf der Flucht, um streng bewachte Grenzzäune, patrouillierende Kräfte. Hinter den politischen Schlaglichtern verbirgt sich eine erstaunliche Stadt: architektonisch, atmosphärisch, kulturell. Wer die ersten Schritte durch den Ensanche, das „Erweiterungsviertel“ macht, läuft direkt in eines der größten Freilichtmuseen des europäischen Jugendstils, mit Kurven, Eisen, Keramik. Und mittendrin: Enrique Nieto i Nieto, der katalanische Architekt, der Melilla zu seinem Lebensprojekt machte.


Nieto war kein Unbekannter, als er 1909 Melilla erreichte. In Barcelona war er Mitarbeiter von Lluis Domènech i Montaner und Antonio Gaudí, beide berühmte Vertreter des katalanischen Modernisme. Was Nieto in Melilla vorfand, war ein aufstrebender, architektonisch jedoch noch unentschlossener Ort. Nach 1900 wuchs Melilla über seine Festungsmauern hinaus. Militäringenieure legten Achsen, Plätze und Raster an, doch die eigentliche Seele des neuen Viertels, des Ensanche, stiftete Nieto. Innerhalb von drei Jahrzehnten entstand eines der größten zusammenhängenden Ensembles des katalanischen Jugendstiles – rund 900 Gebäude, davon mehr als 500 im Stil des Modernisme, Art déco oder Neomudejar. Der katalanische Modernisme, eine regionale Variante des Jugendstils, verbindet traditionelle Handwerkskunst mit symbolträchtiger Ornamentik, floralen Motiven, asymmetrischen Grundrissen und einer starken Inspiration durch die Natur. Charakteristisch sind wellenförmige Fassaden, geschwungene Balkone, dekorative Schmiedeeisenarbeiten sowie das Zusammenspiel unterschiedlichster Materialien wie Keramik, Glas und Stein. Der Stil versteht Architektur nicht als bloßes Bauwerk, sondern als Ausdruck eines gesellschaftlichen Selbstbildes – voller Sinnbilder, Farben und organischer Formen. Antonio Gaudí vertrat sinngemäß die Auffassung, dass die Kunst des Bauens auf der Kurve beruhen muss, da es in der Natur keine geraden Linien oder scharfen Ecken gibt.



Waren seine ersten Bauten noch überbordend an Formenreichtum, schlug der Stil ab den 1920er-Jahren in Art déco um: geometrische Strenge, vertikale Akzente, rhythmische Wiederholungen. Der Palacio de la Asamblea – Stadtregierung und städtebauliche Kulisse zugleich – zeigt dies in konkaver Front und zwillingstürmigen Eckrisaliten.
Der Art déco ist ein Stil der 1920er- und 1930er-Jahre, der sich durch klare geometrische Formen, starke vertikale Linien, symmetrische Fassaden und eine dekorative Abstraktion auszeichnet. Im Gegensatz zum floralen Überschwang des Modernisme betont er Eleganz durch Reduktion und rhythmische Wiederholung. In Nietos Werk spiegelt sich Art déco in gestreckten Pilastern, kantigen Balkonen und ornamentalen Motiven, die häufig auf das Wesentliche zurückgeführt sind.


Doch Melilla war kein Abziehbild Barcelonas. Neomudejar-Bauten wie die Mezquita Central (Enrique Nieto, 1945, Abb. 10) oder die Casa de los Cristales (Ramón Ginorella y Otros, 1926, Abb. 9) verweben maurische Bögen, Zickzackfliesen und Hufeisenarkaden mit Jugendstil-Details. Der Ort wird zum architektonischen Dolmetscher zwischen Europa und Maghreb – ein sichtbarer Beweis jener Offenheit, die der Architekt Fritz Weidner so beschrieb: „Ein Stil wird nie verwendet, … er entsteht und entwickelt sich logisch aus den spezifischen zeitlichen und räumlichen Verhältnissen, aus der Lebensweise der Menschen, den technischen Möglichkeiten und Materialien.“
Diese kulturelle Offenheit steht in Kontrast zur politischen Lage. Marokko erkennt die Zugehörigkeit Melillas zu Spanien nicht an und erhebt bis heute Anspruch auf die Stadt. Dennoch bestehen enge wirtschaftliche und alltägliche Verbindungen – über Marktbeziehungen, familiäre Netzwerke, Pendelbewegungen. Die Grenze trennt und verbindet zugleich.

Wer über den Hauptplatz Plaza de España geht, sieht Fassaden, die vom Neobarock, Modernisme und von der Wiener Secession erzählen – dicht gesetzt, sorgfältig gearbeitet, in wechselnder Stimmung. Weiter nördlich bildet das Triángulo de Oro ein Schaufenster des Jugendstils. Der Parque Hernández schließt einen anderen Bogen: rationalistische Spätwerke – hier von Juan de Zavala (Edificio Antiguo Banco de Espańa, 1943, Abb. 8) – lenken den Blick auf die letzten figurativen Ausläufer des 20. Jahrhunderts. Wenige Schritte genügen, um von Ornamentfülle zu nüchternen Linien zu wechseln – ein Stadtspaziergang als Zeitraffer.
In seiner Atmosphäre vereint Melilla mit weniger als 100.000 Menschen andalusische Leichtigkeit mit nordafrikanischer Dichte. Straßencafés erinnern an Südspanien, die Gerüche an die Medina von Nador. Berberische Wandfliesen, maurische Bögen und symmetrisch angelegte, von Palmen gerahmte Plätze verschmelzen mit Jugendstilfassaden, die so auch in Katalonien stehen könnten. Melilla bewahrt seine Schätze ohne touristisches Getöse. Kurze Distanzen, offene Cafés, Gespräche in Spanisch, Arabisch und der Berbersprache Tarifit – hier mischt sich Alltagsleben mit Baukunst. Wer den Übergang von Historismus zur Moderne erkunden will, findet ein lebendiges Archiv; ein Ort der Geschichten mit Grenzerfahrungen aus Stein, Eisen und Keramik. Kurven erzählen von Optimismus, Fliesen reflektieren Handel, Hoffnung und Geschichte. Melilla beweist, dass Architektur nicht nur Raum formt, sondern Identität – genau dort, wo Kontinente sich berühren.
Text: Jan Dimog
Fotos: Melilla Modernisme, Casa de Los Cristales (Titelbild), Melilla la Vieja, Altstadt (1, 2), Edificio El telegramma del Rif (4), Cámara de Comercio (5), Edificio La Reconquista (6), Edificio Rojo Enrique (7), Palacio de la Asamblea (3), Mezquita Central (10), Modernisme, Casa de Los Cristales (9), Edificio Antiguo Banco de Espana (8)
Bildnachweise: © Jan Dimog / thelink.berlin
Autoreninfo
Der Journalist Jan Dimog betreibt gemeinsam mit dem Architekten Hendrik Bohle ein Digitalmagazin zur Baukultur. Auf thelink.berlin erzählen sie seit Jahren von ihren Entdeckungen in Europa, speziell von den Verbindungen zwischen Mensch und Architektur.
Wenn sie nicht unterwegs sind, kuratieren sie u.a. hochrangige Ausstellungen, etwa die Wanderausstellung zur Architektur von Arne Jacobsen.

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