Sizilien – kontrastreiches Mysterium
Sizilien. Dem Namen eilen noch immer ganze Heeresscharen an Assoziationen und Klischees voraus und haben der Insel und ihren Bewohnern die Aura des unantastbaren, verwegenen, rätselhaften Faszinosums verliehen.
Die amerikanische Filmindustrie ist nicht ganz Unschuld daran. Doch so bleibt man in stereotypisierender Fiktion stecken und zieht der mannigfaltigen Kultur und dem subtilen Charme der größten Insel Italiens die Tarnkappe über. Um Sizilien wenigstens ansatzweise zu verstehen, muss man die Insel sehen (mit Auge und Herz), sie inhalieren und ihren Klängen lauschen. Man muss sich auf die Insel einlassen, sich von ihr verführen und entführen lassen.
Sizilien ist großartig und dennoch unbegreiflich. Magisch und verstörend zugleich. Was den Reiz der Insel ausmacht, sind ihre Kontraste und die Selbstverständlichkeit, mit welcher dem Schönen wie dem Hässlichen dieselbe Daseinsberechtigung zugestanden wird. Die Landschaft ist mal rau und archaisch und dann wieder ein üppiger Garten Eden. Der Duft der schier endlosen Orangenplantagen betört die Sinne, der Ätna thront allgegenwärtig über den Dingen und schenkt der Insel ewige Fruchtbarkeit. Die wunderschönen Barockstädte leuchten hell vor dem tiefblauen Himmel…. und dann, ganz plötzlich, steht ein riesiges Betonskelett inmitten von blühenden Kaktusfeigen oder an einem einsamen Strand. Industrielandschaften mit ihren Öltanks und Bohrtürmen säumen lange Küstenstreifen der Insel, dahinter glitzert das Meer. Die Zeugnisse einer jahrtausendalten Kultur bestehen neben den in Zement gegossenen Symbolen moderner Unkultur. Doch daran lässt sich nicht rütteln, die Koexistenz der Gegensätze ist ein Kontinuum, das man respektieren muss, wenn man Sizilien in sein Herz schließt. Und das wird man unweigerlich, mehr noch: Man verfällt dieser Insel, mit Leib und Seele und es gibt kein zurück.
Am südlichsten Punkt von Siziliens Ostküste – zwischen der Barockstadt Noto und dem suggestiven Fischerort Marzamemi – liegt das Naturschutzgebiet Vendicari: artenreiche Lagunen, wüstenhafte Dünenlandschaft, schroffe Küstenzüge und wilde Strände mit feinstem, hellen Sand wechseln einander ab. Es duftet nach wildem Thymian, Rosmarin und Ginster und seltene Vogelarten und Schildkröten haben hier ihre Oase gefunden. Im Sommer stolzieren hunderte von Flamingos durch das kristallklare Wasser der Lagune und zaubern ein wahres Farbspektakel in die Landschaft. Die ehemalige Thunfischfangstelle – die tonnnara von Vendicari – besticht mit ihrer schlichten, enigmatischen Architektur und blickt auf den Ursprung sizilianischer Kultur: Das Meer.
Unweit des Naturreservats liegen – nur wenige Kilometer voneinander entfernt – zwei Häuser, die ungleicher nicht sein könnten und deren Idee und Vision doch demselben Ansinnen folgt: die Geschichte und die Essenz eines Ortes einzufangen und in Architektur zu übersetzen.
Villa Vendicari
Die Villa Vendicari schmiegt sich in einen von Trockenmauern umgebenen, mediterranen Garten mit Mandel- und Zitrusbäumen, wilden Kräutern und Kaktusfeigen. Der weiße Bau verschwindet fast inmitten der üppigen Vegetation und wird eins mit der Natur. Guglielmo Parasporo und Elena del Drago haben hier ihren Ort der Ruhe und Inspiration geschaffen, um dem chaotischen Leben der italienischen Hauptstadt ab und an zu entkommen und sizilianisches Licht, Farben, Düfte und Stille zu tanken. Und es ist wahr: das Eingangstor des Anwesens markiert den Übergang in eine andere Dimension, in welcher Körper und Seele eine wundersame Wandlung durchlaufen. Ein Gefühl heiterer Entspannung stellt sich ein, alle Sinne treten staunend in Aktion, und der Fokus auf das Wesentliche wird zur selbstverständlichen Prämisse.
Alles an dem Bau ist irgendwie rund und geschwungen. Der offene Wohn-, Ess- und Kochbereich, die drei Schlafzimmer sowie die Gäste-Dependance verteilen sich auf drei nebeneinanderliegende Bauten: Ihr Umriss – unregelmäßige Polygone – zusammen mit den gekurvten Ecken und der leichten Inklination der Außenwände, geben dem Ensemble eine organische Form, die sich harmonisch in die Landschaft integriert. Der sizilianische Architekt Mario Cutuli hat die Form eines Fossils, das auf dem Grundstück zu Tage kam, zur Urform des Baus gewählt, die überall wiederkehrt.
Im Inneren dominieren weiß verputze Wände und Böden. Farbakzente setzen nur die Kunstwerke aus der römischen Galerie von Elena. Die monochromen Architekturelemente lassen ein ganzes Register an Sinneseindrücken zum Zuge kommen: Haptik, Licht, Schatten und das Gefühl von Geborgenheit in den höhlenartigen Räumen, die dank der großen, gläsernen Schiebetüren und der Oberlichter dennoch lichte Weite vermitteln. Kommunikatives Herzstück der Villa ist die Pergola, die sich über die gesamte Länge des Ensembles zieht. Von hier aus führt ein kleiner Weg durch duftende Macchia zum etwas abseits gelegenen Poolbereich mit Baumhaus. Bei Sonnenuntergang werden die weissen Hausmauern zur Projektionsfläche für die Licht- und Schattenspiele der Natur und die Dachterrasse ist der beste Logenplatz!
Das Haus führt seine Bewohner durch die jahrtausendalte Geschichte der Insel, zitiert arabische und normannische Einflüsse und die Architektur der traditionellen Thunfischfangstellen. Die Architektur der Villa macht es den Sizilianern nach und besinnt sich auf das Wesentliche: Die Natur, die rurale Tradition und die ursprünglichen Kulturen der mediterranen Welt.
Gugliemo – gebürtiger Palermitaner – möchte irgendwann seiner Wahlheimat Rom den Rücken kehren und auf seine Insel zurückkehren. Einen neuen Weinberg hat er gerade angepflanzt, die Obstbäume und der Gemüsegarten werfen bereits reiche Früchte ab und das hauseigene Olivenöl schmeckt köstlich. Der fangfrische Fisch, den man am Hafen des nahegelegenen Örtchens Portopalo di Capo Passero direkt vom Fischerboot weg erstehen kann, ist nicht nur ein Fest für den Gaumen sondern auch eine wunderbare Gelegenheit, menschliche Interaktion à la Siciliana zu erleben!
La melagrana
Nur wenige Kilometer weiter, steht, inmitten einer wild-archaischen Landschaft, ein hochmoderner Bau auf Stelzen. Hier findet die Mailänderin Federica Cimatti ihren stillen Zufluchtsort, wenn ihr die lombardische Metropole zu laut wird: la melagrana (it. für Granatapfel) heißt der Bau, dessen Konzept und Charakter ebenso rigoros und genial ist wie seine “Erfinderin”. Die vielfach ausgezeichnete sizilianische Architektin Maria Giuseppina Grasso Cannizzo. Dieses Jahr zum dritten Mal auf der Architekturbiennale in Venedig vertreten, erhielt sie 2012 sie auf der Triennale in Mailand eine Goldmedaille für ihr Lebenswerk. Zweimal war sie für den Mies van der Rohe-Preis nominiert und für la melagrana erhielt sie den „RIBA Award for Architectural Excellence“.
Maria Giuseppinas Projekte bewegen sich im Spannungsverhältnis zwischen Strategie und Fantasie. Am Beginn ihres Entwurfsprozesses steht eine behutsame Analyse der Rahmenbedingungen, des Kontexts und der Wünsche und Vorstellungen der Bauherren. So konsequent, kompromisslos und oftmals radikal ihre Projekte sind, so sensibel ist ihr Umgang mit Raum, Material und Licht und mit dem Ort, seiner Geschichte und den Lebensgewohnheiten der Bewohner.
La melagrana ist von einer entwaffnenden Schlichtheit und gleichzeitig ein wahres Wunder der Wandelbarkeit. Eine hermetisch geschlossene Holzbox im geschlossenen Zustand oder aber ein luftiges Ferienhaus mit viel Platz und Privatsphäre für 6 Personen. Der Bau besteht aus zwei voneinander unabhängigen und doch miteinander interagierenden Gebäudeteilen: das Haupthaus und ein beweglicher Baukörper, der als Gästetrakt fungiert. Dieser liegt in geschlossenem Zustand wie eine schützende Wand vor der großen Glasfront des Haupthauses und kann zur Seite geschwenkt werden. Dann öffnet sich der Zugang zur Terrasse, von der man eine weite Aussicht in die Natur genießt. Der mobile Gebäudeteil bewegt sich auf Schienen, die in dem Unterbau aus Beton verankert sind und verändert je nach Position den Charakter des Hauses und die Blickperspektiven vollkommen. Die lamellenartigen Öffnungen der Terrasse garantieren ausreichend Luftzirkulation und schenken abwechslungsreiche Aussichten über die mediterrane Macchia bis hin zum Meer.
Das Meer und immer wieder das Meer.
Diesem unendlichen, blauen Kontinuum hält Sizilien seit Anbeginn der Zeiten die Treue. Aus ihm nährt sich die Insel, aus ihm ziehen die Sizilianer ihren Sinn für das Wesentliche, ihre Identität und die unzähligen Schichten ihrer Kultur: Und so hat der Blick, der von unseren so unterschiedlichen Häusern aus über die Landschaft schweift, ein und dasselbe Ziel: “u mari”.
Le Tamerici
Wir rücken noch ein Stück näher an die blaue Weite heran, genauer gesagt stellen wir uns direkt an den Strand des kleinen Fischerortes Punta Secca, nur wenige Kilometer von den magischen Städten Ragusa, Modica und Scicli entfernt.
Das Fischerdorf blickt auf eine lange Geschichte von Belagerungen zurück: Griechen, Byzantiner, Araber und Normannen legten an diesem Stück Küste an, von dem aus es nach Afrika nicht mehr weit ist. Die Araber nannten den Ort ?Ayn al-Qasab, daraus wurde im Laufe der Zeit „Capo Scalambri“: dieser Name ist bis heute der offizielle Name von Punta Secca auf geographischen und nautischen Karten und bezieht sich auf den schlichten aber majestätischen Sarazenenturm, die „torre Scalambri“, der die Bucht dominiert.
1766 wurde in Punta Secca eine Reihe von Lagerhäusern für die Einlagerung des Fischfangs gebaut. Und damit der Himmel den Fischern weiterhin wohlgesonnen blieb, errichtete man gleich darauf die kleine Kirche Santa Maria di Porto Salvo.
Das vielleicht schönste und in seiner Form am ursprünglichsten gebliebene Haus am Strand von Punta Secca – Le Tamerici – war früher Teil eines ländlichen Gebäudeensembles, das Ende des 18. Jahrhunderts auf den Liegenschaften des Prinzen Starrabba di Giardinelli errichtet worden war. Der größte Teil wurde Anfang des 19. Jahrhunderts verkauft und zum Sommersitz einer wohlhabenden Familie der Gegend umgebaut – in diese wurde in den 1950er Jahren Maria Giuseppina Grasso Cannizzo hineingeboren.
Von französischen Tamerisken flankiert, öffnet sich Le Tamerici zur mal indigoblauen, mal jadegrünen Weite des Meeres, lässt sich von seiner Brise durchwehen und blickt dorthin, wo sich der afrikanische Kontinent erahnen lässt. Hier atmet man in lichtdurchfluteten Räumen die authentische Atmosphäre eines sizilianischen Sommerhauses des beginnenden 19. Jahrhunderts. Die Architektin hat ihren Teil des Hauses mit größter Rücksicht auf den alten Bestand behutsam modernisiert, der ursprüngliche Charakter blieb unangetastet: hohe Decken, rohe Steinwände, traditionelle Majolika-Fliesen und ein stimmiges Nebeneinander von antiken Möbeln und modernistischen Stücken.
Auch hier waren die Geschichte des Hauses und der Genius loci der Ausgangspunkt für die extrem behutsame, architektonische Intervention. Die stillen Wohnräume und der überdachte Patio laden dazu ein, der sizilianischen Lebensart nachzuspüren, die sich im Spannungsfeld zwischen Kommunikation und Kontemplation entfaltet. Das Haus von Maria Giuseppina schärft die Sinne für die Wahrnehmung und Erfahrung dieses Ortes und seiner Geschichte und schafft kraftvolle Wechselwirkungen zwischen dem Raum, den Objekten und dem Menschen.
„Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise II, 13. April 1787)
Text: Britta Krämer, April 2018
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Ein Kommentar
Wunderbar geschrieben, mein Kompliment, ich kann mich nur anschließen, Italien ist immer wieder ein Traum