Kleine große Welt
Rügen ist eigentlich mehr als nur eine Insel, zu vielfältig sind ihre Gesichter vom Kap Arkona bis nach Garz und von Schaprode bis nach Göhren: Hier die weiten Felder, dazwischen die langen Alleen, dort die Strände mit ihrem feinen weißen Sand, die Steilküsten und die Kreidefelsen.
Auf der einen Seite die Ostsee und auf der anderen Seite der Bodden und der Sund – Wasser ist wie für jede Insel auch auf Rügen das bestimmende Element. Aber auch hierin ist die Insel besonders, gehören doch auch die dichten Buchenwälder mit dem Farbspiel des Laubes im Frühjahr und im Herbst zu den Attraktionen dieser zudem noch bewegten Landschaft. Zwischen all dem faucht zu weilen die Schmalspurbahn, der „rasende Roland‘‘, durch den Landstrich und verschafft ihm damit eine weitere Attraktion. Für ein „Lummerland‘‘ ist Rügen bei weitem zu groß, dennoch geben die Überfahrt über den Rügendamm, die neue Hochbrücke oder die Fährfahrt von Stahlbrode nach Glewitz das Gefühl, den Alltag mit seinen Sorgen hinter sich lassen zu können und sich ganz und gar der Entspannung, vielleicht sogar einer Neuorientierung widmen zu können. Jeder Urlaub ist schließlich so etwas wie eine Entdeckungsreise, und wenn sie nur der Selbstfindung dient.
Dazu trägt die anregende Vielfalt auf Rügen sicher bei. Aber wo das Basislager für diese Expedition aufschlagen und welche Unterkunft mit welcher Ausstattung eignet sich dazu? Ein altes Logierhaus oder mondänes Hotel mit hölzernen Balkonen im Stil der Seebäderarchitektur des späten 19. Jahrhunderts, so wie er in einigen Küstenorten vorherrscht oder eine umgebaute Fischerkate soweit sie überhaupt noch zu finden ist? Die allsommerliche Betriebsamkeit an Sandstränden und Steilküste lässt einen Rückzug in die ländlichen Regionen der Insel als ratsam erscheinen. Warum also nicht in das agrarwirtschaftlich geprägte Hinterland ziehen, wo Felder und Wiesen, Alleen und Gutshäuser das Bild bestimmen.
Das alte Gut Mauritz in Zicker auf dem Zudar ist so ein Ort. Von Stralsund aus ist er in knapp 40 Minuten mit dem Auto zu erreichen. Auch ein Linienbus hält unter der Woche auf dem Dorfplatz, der den doch zahlreichen Schulkindern den Weg in die nächste Schule erleichtert. Menschenleer ist dieser Landstrich nicht, auch wenn die Landwirtschaft hier nicht mehr in großem Maßstab betrieben wird und die alten Gutshäuser und deren Wirtschaftsgebäude dafür nicht mehr gebraucht werden. Auf Gut Mauritz sind die Bauten liebevoll restauriert und mit Ferienwohnungen gefüllt worden. Die dörfliche Struktur des Ortes ist noch immer oder vielleicht wieder gut nachzuvollziehen: die großzügige Parkanlage zwischen dem ehemaligen Wohnhaus und den Wirtschaftsgebäuden, die weite Landschaft, die sie umgibt, der Blick auf die nahegelegenen Buchten der Schoritzer Wiek, die Ostsee und die doch wenigen Häuser und das weite Land.
Die einst ertragreiche Landwirtschaft hat in den Wirtschaftsgebäuden eine anschauliche Leere und große tiefe Räume hinterlassen, die Andreas Breckwoldt und Ulrike Flock geschickt wiederbefüllt haben. Zum einen mit großen Wohnungen mit großzügigen hohen Räumen, die einem Mehrgenerationenurlaub genauso nutzen wie einem großen Freundeskreis oder einem Yogakurs. Im der aktuellen Diskussion um einen innovativen Wohnungsbau werden solche Wohnungen Clusterwohnungen genannt. Aber auch kleine Einheiten für Single- oder Paarreisende sind hier zu finden. Große Fensterflächen, üppige Terrassen und Balkone ermöglichen einen weitschweifenden Ausblick — in die weite Welt genauso wie auf die Dramen des Dorfalltags, die sich zeigen, wenn ein Hund Nachbars Hahn schnappt und hinters Haus zieht…
Allen Wohnungen stehen eine gemeinsam Sauna sowie Stellflächen für Fahrräder, die außerdem noch auszuleihen sind, und anderes Fahrgerät zur Verfügung. Diese Fahrzeuge erweitern das Aktionsfeld um das Gut, nutzen auch auf dem Weg zum nahen Strand und zum langsamen Erkunden der Inselwelten. Der Kornspeicher Mauritz ist also ein ideales Basislager jedweder Erkundungsreise.
Olaf Bartels, geboren 1959, ist Architekturhistoriker und Architekturkritiker. Veröffentlichungen u. a. in der Bauwelt, Baumeister, deutsche bauzeitung. Forschung und Lehre zur Architektur- und Stadtbaugeschichte. Er lebt in Hamburg und Berlin.
Bildrechte: Ludger Paffrath, Andreas Breckwoldt
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