Ruinenreiz: Wunder in den Westkarpaten
Mit der tschechischen Designerin Daniela Hradilová sind wir seit Jahren eng verbunden. Die Entstehung ihres zweiten, bei uns veröffentlichten Hauses haben wir quasi in Echtzeit verfolgt: Mezi Lukami – das Making-of.
Unbeachtet vom Großteil Europas geschehen am Fuße der Beskiden im Osten Tschechiens immer wieder mal kleine Wunder. In die westlichen Ausläufer der Karpaten verirren sich keine großen Touristenströme, hier bewegt man sich noch unterhalb des Radars der internationalen bucket lists. Eine Tatsache, die die tschechische Designerin Daniela Hradilová und ihren Mann Petr wenig stört, ganz im Gegenteil: Wie ihre heutigen Gäste haben sie vor über 20 Jahren die Ruhe und die Naturnähe bewusst gesucht – und dafür seinerzeit das quirlige Treiben der Metropole Ostrava hinter sich gelassen. Ihr Umzug in den 2800 Seelen zählenden Erholungsort Čeladná mag sie nur 40 Kilometer weiter in Richtung Süden geführt haben, aber definitiv in eine ganz andere Welt.
2017 haben sie hier ihr Boutique-Hotel Mezi Plutky (Between Fences) eröffnet, das bei Gästen wie der Presse international gleichermaßen großen Anklang gefunden hat. Warum das Haus so gut ankommt, versteht man, wenn man die Umbauarbeiten an ihrem neuen Gästehaus Mezi Lukami (Between Meadows) verfolgt, das in fußläufiger Entfernung zu ihrem Boutique-Hotel liegt.
Neues Leben in alten Mauern
Alles begann damit, dass sich die ehemaligen Besitzer:innen selbst nicht mehr um das mehrfach umgebaute und dadurch entstellte Gebäude kümmern konnten und es daher Daniela und Petr vor einigen Jahren anvertrauten.
Das Haus Nr. 33 ist ein eher schlichtes Holzhaus vom Beginn des 19. Jahrhunderts und wurde im typischen Stil der mährischen Walachei erbaut. Der Aufbau des Hauses war ursprünglich zweigeteilt: Eine Eingangshalle, die auch als Rauchküche diente, teilte das Haus mittig. Auf der eine Seite schloss der Hauptwohnraum an, auf der anderen Seite ein landwirtschaftlich genutzter Bereich. Erst später wurde der Stall in einem separaten Gebäude untergebracht, sodass dieser Raum fortan als Lagerraum mit Zugang zum Keller genutzt werden konnte. Das Haupthaus selbst ruht auf einem steinernen Sockel, umgeben von Wiesen. So weit, so unspektakulär. Wer aber die neuen Besitzer:innen kennt und den Baufortgang beobachtet, ahnt, dass hier gerade etwas Besonderes entsteht.
Durch zahlreiche Gespräche bekamen Daniela und ihr Mann einen ersten Eindruck von der komplexen Geschichte des Hauses, eines der ältesten vor Ort. Und auch wenn die Historie des Hauses nicht lückenlos rekonstruiert werden konnte und viele Erzählungen fragmenthaft bleiben: Die Anekdoten zum Gebäude vermitteln ein scherenschnittartiges Bild von seinem ehemaligen Dasein und den in ihm tradierten Werten.
Die besondere Begabung der tschechischen Designerin Daniela Hradilová ist ihr ganz offensichtlich sehr ausgeprägtes, holistisches Gespür für den jeweiligen Ort und seine individuelle Geschichte. So entwickelt sie unter Berücksichtigung der Fundstücke vor Ort dessen künftige Materialität. Die Herausforderung, auf der Basis unausgesprochener Worte und nicht offiziell vermerkter Fakten größere Zusammenhänge zu erschaffen, quasi zwischen den Zeilen zu lesen, meistert Daniela mit ihrer ausgeprägten Beobachtungsgabe, einer großen Portion detektivischen Gespürs sowie Geduld und nochmals Geduld.
„Ein wesentlicher Aspekt, den alle meine Projekte gemeinsam haben, ist, dass sie mit viel Bedacht und in großer Ruhe entstehen. Ich nähere mich ihnen wie auf Zehenspitzen – mit Respekt und Demut gegenüber den Gebäuden und den dazugehörigen Menschen. Und irgendwo dazwischen entsteht Kontinuität. Emotionen sind das größte Gut, das wir haben.
Dieses grenzenlose ,Dazwischen‘ ist der wesentliche Kern – die Beziehungen und Berührungspunkte der Dinge, ihre Synchronizität. Wenn wir die Feinheiten zwischen den Zeilen bewusst wahrnehmen, kann das Neue, das wir erschaffen, ,perfekt‘, wahrhaftig und schön zugleich sein.“
Diese individuelle Art der Annäherung an das jeweilige Gebäude ist von ihrem ersten Boutique-Hotel an über die ganzen anderen Bauprojekte der letzten 15 Jahre – überwiegend Hotel- und Restaurantumbauten – hinweg unmittelbar spür- und anhand der Pläne und Umbaumaßnahmen sichtbar.
Ortsspezifisches Entwerfen
An Daniela Hradilovás Herangehensweise ist so einiges bemerkenswert. So entwirft sie beispielsweise immer in der 1:1-Situation, also vor Ort, und ausschließlich mit dem Stift. Erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt werden diese Ergebnisse dann in nahezu finaler Form digitalisiert.
Dabei hat nicht nur das Wissen um die Geschichte des Hauses großen Einfluss auf den Entwurf, berücksichtigt wird auch das weitere Umfeld – der Garten, das Grundstück, die direkte und die mittelbare Umgebung. Gerade Letztere birgt – weil sie schon lange vor dem Projekt da war – viele Erinnerungen und erzählt dem, der zuhören kann, wertvolle Geschichten.
„Entwerfen ist für mich wie schaukeln – hin und her. Man geht fort und kehrt wieder zurück, man vergleicht. Man fügt Gewicht hinzu und nimmt es wieder weg, auf altbewährte Art und Weise. Man tritt näher heran und wieder einen Schritt zurück. Es ist das ewige Streben nach Gleichgewicht und gleichzeitig ein Kinderspiel.“
Ihre Herangehensweise beschreibt sie selbst als ein Zu-Ende-Erzählen von Geschichten ohne Anfang. Damit meint sie den respektvollen Umgang mit alten Gebäuden, was für sie nie lediglich eine reine Rekonstruktion sein kann. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Kontinuität, die ihrer Meinung nach ein ganz wesentlicher Teil unserer ureigenen Ruhe und Zufriedenheit ist. Wenn diese Konstanz mit dem Respekt vor dem Althergebrachten verschmilzt, entsteht Stärke – davon ist sie fest überzeugt.
„Ich zeichne mehr als die ‚Realität‘, ich zeichne ihre Vision.“
Ziel dieser Vision ist es, Räume beziehungsweise einen Ort zu erschaffen, der nicht nur die Würde des Baukörpers wiederherstellt, sondern der – ganz unmuseal – zum Verweilen einlädt. Ob schlafen, träumen, frühstücken, lesen, kochen, einfach nur sein, abschalten, reflektieren oder diskutieren – Daniela erkennt und entwickelt Orte für den einfachen wie wunderbaren Müßiggang der künftigen Gäste weit im Vorfeld. Und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem das Haus selbst noch eine unangetastete (Halb-)Ruine ist.
„Die Sehnsucht nach Abenteuern, sie könnte hier befriedigt werden: auf dem abendlichen Weg zur Terrasse, ein Glas Wein in der Hand – jener Terrasse, die man barfuß vom Schlafzimmer aus betritt – jenes Schlafzimmer, dessen Fenster den Blick auf die Bäume freigeben – jene Bäume, die wir gepflanzt haben – und weiter in jene Ecke des Gartens, wohin ein Ball rollt …
Ich verkürze diesen Weg nicht – wie werden die Gäste diesen Ort wahrnehmen, nutzen? –, ich inspiriere sie lediglich, helfe ihnen, mit dem Ort in Verbindung zu treten, auf ihre ganz eigene Art und Weise.“
Gelebte Handwerkskunst
Um all dies zu erreichen, wird sie auch im Falle von Mezi Lukami den Bestand unter Zuhilfenahme hochwertiger traditioneller Handwerkskunst wiederauferstehen lassen. Sie wird das Haus durch subtile, aber wirkungsvolle Ergänzungen in die Gegenwart und Zukunft transferieren.
Einfache vorgefundene „Zutaten“ – wie die vorherrschenden Naturstein- und Holzelemente – werden im Einklang mit der Materialität des Baukörpers punktuell ergänzt. Wo einst die Eingangshalle war, entsteht nun der zentrale Aufenthaltsbereich des Hauses. Hier wird eine große Couch als Solitär platziert, von der aus man den Blick entlang einer neuen, unaufdringlich gesetzten Blickachse schweifen lassen kann.
Der daran anschließende ehemalige Durchgang zwischen Haupthaus und Stall wird vollständig verglast. Hier kommt – als Herzstück jeden Aufenthalts – der Esstisch zu stehen, von dem aus man einen nahezu grenzenlosen Blick auf die umliegenden Wiesen haben wird. Diese vollkommen neue Szenerie wird von Lichtelementen einiger der berühmtesten tschechischen Designer ausgeleuchtet werden. Ähnliche Pläne, das Opulente im Einfachen zu inszenieren, gibt es für die Küche. Sie avanciert dank einiger unauffälliger wie raffinierter Eingriffe zu einer Insel des Geschmacks und der Düfte, die sich – gefühlt – eher im Garten als im Innenraum befindet. Überhaupt, der Garten: Er wird dem Haus buchstäblich zu Leibe rücken, Innen- und Außenraum sollen weitestgehend verschmelzen.
Gott sei Dank gibt es in den Beskiden noch Vertreter:innen der verschiedenen Gewerke, die sich auf die erforderlichen traditionellen Handwerkstechniken verstehen. Denn nur so lässt sich diese anspruchsvolle Aufgabe auf einem solch hohen Niveau überhaupt realisieren. Gut, dass Daniela Hradilová schon seit Jahren beste Beziehungen aufgebaut hat und sich auf ihr „Team“ verlassen kann.
„Wenn ich nicht auf ein Team von langjährigen und erfahrenen Handwerkern zurückgreifen könnte, hätte ich es nie gewagt, diese anspruchsvolle Aufgabe des Renovierens von Häusern anzugehen. Ich kenne alle Beteiligten, die an Between Meadows mitwirken, bereits seit zehn Jahren – wir fühlen uns in ihren Werkstätten wie zu Hause. Und ich bin für jeden von ihnen dankbar: In einer Zeit, in der das traditionelle Handwerk im Verschwinden begriffen ist, ist ihre Kunst und Leidenschaft eine Art Wunder.
Die größten Expertisen sind meiner Meinung nach Respekt vor der Aufgabe, meisterhafte Arbeit und der Stolz darauf, ein scharfer Blick und strapazierte Hände – niemanden nehme ich ernster als Menschen, die das verkörpern.“
Text: Ulrich Stefan Knoll, Mai 2021
0 Kommentare