Wöltjes Welt
Leerstand ist ein Wort, das relevant gefüllt werden will. Mit den „Happening Places“ realisierte der Münchner Ideen-Architekt Gregor Wöltje nicht nur aufregende Projekte in der bayerischen Metropole, er setzte damit auch nachhaltige Statements.

„This is really happening“ versicherte das Schild im Aufgang des imposanten Marmortreppenhauses der Bayerischen Staatsbank allen Ungläubigen, die für einen Moment zweifelten, ob sie hier wirklich richtig waren. Ein hippes, temporäres Hotel mit vibrierendem Kulturprogramm, versteckt hinter einer der denkmalgeschützten Fassaden in Münchens Luxuslage? Damit hätte selbst die alte Staatsbank nicht gerechnet.

In der Lobby angekommen, eröffnete sich den Gästen auf 4800 Quadratmeter ein subkulturelles Paradies – ein lichtdurchfluteter, kunstvoll tapezierter, pulsierender Raum mit offenen Galerien und vertikalem Garten. Voller lachender, diskutierender und tanzender Menschen, Gläsergeklimper an der Bar und veganem Streetfood, kleinen bis großen Konzerten und Ausstellungen, Pop-up-Stores und Workshops. Wer Geist und Glieder strecken wollte, ging zum Yoga, für kontemplative Moves in den Boxclub und wem der Kopf nach Neuem stand, zum Barber. Nicht zu vergessen die außergewöhnlich gestalteten Hotelzimmer.


Kurz gesagt: Ein Ort, den es so in München zuvor noch nie gegeben hatte. Welcome to „The Lovelace – A Hotel Happening“. Frischer Wind für die Stadt, dessen Intensität atemlos staunen ließ. Alles umgesetzt innerhalb kürzester Zeit und hochwertig ausgestattet dank renommierten Design- und Kunst-Kooperationen, wie etwa das überlebensgroße Victory-Symbol gleich neben der Rezeption. Zwei lässig in die Höhe gestreckte Finger, zwei Jahre multikulturelles Happening im ersten Pop-up-Hotel der Welt. Eine revolutionäre Idee und ein Erfolg, der nicht nur Geschichte, sondern seitdem jede Menge Fortsetzungen schreibt.
All places are temporary places.
Einer der drei federführenden Erzähler:innen ist Gregor Wöltje, dem man immer noch die Leidenschaft anmerkt, wenn er von der rasanten Realisierung des „Lovelace“ berichtet. Was für den Architekten, Nachhaltigkeitsexperten und Ideen-Kreateur ein gutes Projekt ausmacht, ist dessen Unmöglichkeitsfaktor. „Eigentlich bekommen wir inzwischen nur noch Projekte auf den Tisch, die sonst keiner anfassen will“, lacht der gebürtige Hannoveraner, der in München aufgewachsen und dann geblieben ist, abgesehen von Abstechern rund um die Welt. Aber oft beginnt die weite Welt ja direkt vor der eigenen Tür.

Denn gemeinsam mit den Kulturveranstaltern Michi Kern und Lissie Kieser initiiert, entwickelt und gestaltet Gregor seit 2015 vielfältige Happening Places, die im ersten Moment verrückt klingen und im zweiten nicht mehr wegzudenken sind. Immer mit dem Ziel, einen dritten Ort im kulturellen oder sozialen Kontext zu schaffen, an dem sich jede:r willkommen und wohlfühlen soll, erklärt der Macher das Konzept: „Die Projekte von ‚‘This is really happening‘ haben nie einen rein finanziellen Aspekt, sondern sollen zeigen, wie gesellschaftliches Engagement, Kultur und Place Making funktioniert.“ Nichts sei trauriger als Orte, die gut gemeint waren und dann verwaisen, weil sie niemand bespiele, so Wöltje. „Unsere Ideen haben natürlich sehr stark mit dem zu tun, was uns politisch, ästhetisch und kulturell antreibt, aber letztendlich entstehen sie aus den Orten selbst heraus, die wir nicht verbiegen wollen.“
We trust the process.
Ähnlich verhält es sich auch mit seinem eigenen Zuhause. Seit über zwölf Jahren lebt Gregor Wöltje mit seiner Frau Katrein und einer bunten Patchwork-Familie aus sieben Kindern und diversen Katzen in Possenhofen am Starnberger See. Die historische Villa Fischer, in der einst der Leibarzt der Kaiserin wohnte, war damals tatsächlich das einzige leerstehende Haus rund um München, das ausreichend Platz für die große Familie bot. Ein glücklicher Zufall mit anhaltender Sommerfrische, die gern mit Gästen geteilt wird. Dafür wurde die denkmalgeschützte Remise – einst Pferdestall und Kutschenhaus – sorgfältig saniert und in drei stimmige Ferienwohnungen verwandelt, die ebenfalls großen Wert auf Nachhaltigkeit, Design und Komfort legen.
There is no masterplan.
Dass Wöltje Pläne lesen kann, war nicht nur für den Umbau des eigenen Hauses, sondern auch für das Hotel-Happening wesentlich. Ansonsten fällt der diplomierte Architekt aus dem klassischen Grundriss. Schon während des Studiums ähnelten seine ungewöhnlichen Präsentationen eher comicartigen Manifesten als bierernsten Konzepten. Nach einem Jahr Architekturbüro: Tabula rasa . Er ließ die langwierigen Entwürfe hinter sich, um mit einer eigenen Werbeagentur kurzweilige Geschichten für MTV, Burger King oder Levi’s zu entwerfen. Doch die Werbewelt weckte über die Jahre nicht nur jede Menge guter Plots, sondern auch viele nachdenkliche Fragen.
Seitdem widmet sich der Ideen-Architekt ausschließlich Geschichten im grünen Bereich: „Unsere Nachhaltigkeitswelt ist eine Welt, der es an Ideen, Ästhetik und Attraktivität mangelt.“ Ein Zustand, den Wöltje ändern will. Als er vor ein paar Jahren dann zufällig seinen alten Weggefährten Michi Kern wieder traf, war ein kongenialer Miterzähler gefunden. Seitdem entwickeln die beiden gemeinsam mit Partnern Geschichten für die Stadt, die ihnen am Herzen liegt. Zunächst mit dem „Lost Weekend“, einem Buch-Café mit kleinen, feinen Live-Acts, 2017 folgten mit „The Lovelace“ und der anschließenden Wiederbelebung der denkmalgeschützten Reithalle spannende Event-Locations. „Wenn die Geschichte gut ist, dann ist sie für alle effektiv“ – Wöltje weiß um die Macht des Storytellings und den Katalysator für Kooperationen. Alles andere finde sich meist von selbst.


We like to experiment.
Wie beim „Sugar Mountain“: Als Auftakt einer großflächig geplanten Quartiersentwicklung sollte mitten in der Pandemie ein ehemaliges Betonwerk in Obersendling in ein riesiges Freizeit- und Kunstareal umfunktioniert werden. Ein herausforderndes Stadtentwicklungsprojekt mit reizvollem Unmöglichkeitsfaktor – genau das Richtige für „This is really happening“. Heute ist das „Sugar Mountain“ ein kreativ-urbanes Experimentierfeld, das alle Münchner:innen zur Partizipation und Interaktion einlädt. Ob zum Skaten, Basketballspielen, Graffitisprühen oder Bouldern, ob zum Konzert, Open-Air-Kino, Flohmarkt oder einfach nur zum Sein. Der Berg an Möglichkeiten ist endlos und das Zwischennutzungskonzept inzwischen eine dauerhafte Institution. Ein großer Gewinn für das Quartier und die ganze Stadt.
„Schon seit meiner Schulzeit habe ich den Drang, mit guten Ideen für ein gutes Leben beizutragen“, erinnert sich Wöltje, der mit seinen Projekten ein „Neues Normal“ etablieren will. „Das Neue Normal ist ein tierfreundliches, nachhaltiges und gleichberechtigtes. Alles, was man so schön unter „wokeness“ zusammenfassen kann. In der Mehrheit müssen wir die richtigen Entscheidungen treffen. Dann dreht sich eh das Ganze. Wir glauben fest daran.“ Aus seinem Mund klingt dieser Zeitgeist alles andere als bemüht, vielmehr übersprudelnd natürlich, gleich einer unbeirrbaren und unablässigen Energiequelle, die unsere zwischenmenschliche Welt wärmer und lebendiger gestalten will.

We cherish the surprise.
Kein Wunder also, dass es auch noch einen gemeinnützigen Verein gibt, mit dem ein ganz besonderer „Happening Place“ für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche realisiert wurde. Direkt an der bayerischen Goldküste, auf einem der schönsten Grundstücke am Starnberger See, liegt die denkmalgeschützte Villa Zitzmann, die heute als „Villa K.“ ein liebe- wie kunstvoll gestalteter Rückzugsort und kunterbunter Abenteuerspielplatz mit zukunftsrelevanten Inhalten ist. Nach acht Jahren Leerstand sollte die alte Villa eigentlich in ein Luxushotel mit großem Spa- und Wellnessbereich verwandelt werden.
Stattdessen genießen seit 2022 ukrainische und deutsche Kinder den unbezahlbaren Luxus eines friedlichen Ortes. Auch hier steckt von oben bis unten, kreuz und quer die Liebe im Detail – von den knallbunten Möbeln eines einstigen 5-Sterne-Hotels bis zum künstlerisch durchdachten Farbkonzept der einzelnen Räume. Inzwischen hat das Vorzeigeprojekt einen 20-Jahre-Vertrag erhalten. Genügend Zeit und Raum, um sich fundiert weiterzuentwickeln. Diese Momente sind für Wöltje ein Geschenk, denn natürlich läuft nicht immer alles so leichtfüßig und reibungslos, wie es klingt. Jedes Projekt ist ein Balanceakt zwischen Realität, einem hohen künstlerischen wie architektonischen Anspruch und dem Budget.


This is just the beginning.
Um zwischendrin Luft zu holen, geht es zum Runterkommen und Leerwerden ins Agger Farmhouse. Mit dem Um- und Ausbau eines alten Bauernhauses samt Scheune am Rande des Nationalparks Thy, haben die Wöltjes einen weiteren Lieblingsort geschaffen, den sie nicht nur mit Freunden, sondern mit allen teilen, die die Verbundenheit mit der Natur schätzen. Auch hier wird das „Neue Normal“ in jedem Winkel spürbar; es fusionieren überraschende Architektur, skandinavische Stilsicherheit und handverlesene Kunst mit maximaler Nachhaltigkeit. Inklusive neuer Sicht- und Wohnweisen – wie in der „Magic Box“ im ausgebauten Hayloft, einer vielseitigen Raum-in-Raum-Lösung. So oft wie möglich reist Wöltje mit seiner Familie an die wilde Küste Dänemarks, um sich an deren endlosen Stränden den salzigen Wind um den quirligen Kopf wehen zu lassen.
Was sich der kreative Ideen-Aktivist für die Zukunft seiner Heimatstadt wünscht, ist mehr Mut und einen neuen Stadtentwicklungsplan wie am Beispiel Kopenhagens: „Wo wollen wir in 20 Jahren stehen und wie benehmen wir uns, damit es auch funktioniert?“ In der Zwischenzeit wecken Wöltje, Kern und Co. erst mal schlafende Katzen. Denn mit dem „Fat Cat“, wie der voluminöse Gasteig-Bau seit 2023 genannt wird, eröffnet das größte Subkulturzentrum Europas, das allen Disziplinen und Kunstformen Raum und Möglichkeiten bieten soll. Dass bereits ein weiterer wegweisender „Happening Place“ in Planung ist, steht außer Frage. Wo, wird allerdings noch nicht verraten. Fortsetzung folgt.



Text: Julia Hauch
Fotos: Design Tower Sugar Mountain Munich © pulse advertising (Titelfoto), The Lovelace © Thomas Mandl (1) © Thomas Kiewning (2) © Steve Herud (3), Gregor Wöltje © Thomas Dashuber (4), Sugar Mountain Munich © Gregor Wöltje (5), © Thomas Mandl (6) © kicks (7), Villa K © Sebastian Dörken (8), © Thomas Dashuber (9), Agger Farmhouse © Tina Stephansen (10 – 12)
Der Beitrag erschien erstmals in unserer Buchveröffentlichung Orte & Visionen.
0 Kommentare